Kasuistik

Dr. Philipp Feige

Klinik für Neurologie,
Alexianer Klinik Bosse Wittenberg

Patientendaten

  • Karl-Heinz, 66 Jahre
  • Bis 2009 tätig im Straßenbau, seitdem berentet
  • Seit 2009 geschieden und alleinstehend, 3 Kinder, eine Tochter ist familiäre Bezugsperson
  • Pflegegrad 2, lebt in betreuter Wohneinrichtung

Medizinische Anamnese

Erstdiagnose Parkinsonsyndrom 2001

  • Mehrere stationäre Aufenthalte in Parkinsonfach- und Universitätskliniken
  • Initialsymptom: Ruhetremor der linken Hand, später Rigor und Bradyhypokinese
  • 2009 deutliche Verschlechterung aller Symptome sowie zunehmend unzureichende Wirksamkeit der oralen Medikation, Wirkfluktuationen
  • Umfassend auf Fremdhilfe angewiesen
  • Progrediente motorische und nicht-motorische Symptome:
    • Gangstörung mit Kleinschrittigkeit
    • Freezing
    • Wearing-off
    • On- und Off-Dyskinesien
    • Posturale Instabilität bis hin zur vollständigen Immobilität innerhalb der vergangenen Monate
    • Patient spiegelte seine Einschränkungen wider und wirkt deprimiert
    • In allen Denk- und Bewegungsabläufen stark verlangsamt
    • Sprachmodulation sehr leise
    • Zunehmend psychotische Phänomene (optische Halluzinationen) unter Dopaminagoniste
  • Komorbiditäten:
    • Diabetes mellitus Typ 2, insulinpflichtig
    • Koronare Herzerkrankung, Bypass-Operationen 2013, 2014 und 2015
    • TURP 2012 aufgrund einer Überlaufblase

Bisherige Therapien

  • Seit 2003 Amantadin und bis 2005 zusätzlich Pergolid
  • Seit 2005 Levodopa/Entacapon (ab 2015 750 mg/d)
  • 2005–2012 Add-on-Therapie mit Cabergolin
  • Seit 2012 Pramipexol (3x 0,7 mg/d)
  • Seit 2015 zusätzlich Rotigotin transdermal (2 mg/d)
  • Absetzen zunächst von Amantadin und im Verlauf 2016 der Dopaminagonisten aufgrund wiederholter psychotischer Zustände
  • Progrediente Wirkfluktuationen unter maximalen Dosen von Levodopa/Entacapon führten zur Anlage einer jejunoduodenalen Sonde für die Duodopa-Pumpe
  • Seit 2017 zusätzliche orale Behandlung mit Levodopa/Opicapon

Diagnostik

  • Labor: leicht erhöhte Blutzuckerwerte, GFR 84 ml/min, sonst normwertig
  • EKG: Sinusrhythmus, 82/min, kein Block, keine Infarktzeichen, rhythmisch
  • Riechtest: 5/12-Hyposmie
  • Restharnsonografie: 350 ml Restharn nach Miktion
  • Logopädischer Befund: rigid-hypokinetische Dysarthrie, Dysphagie-Kostphase 3
  • Schellong-Test: keine Orthostasezeichen
  • ENG: axonale und demyelinisierende, sensomotorische Polyneuropathie
  • Geriatrisches Assessment: MMST (Mini-Mental-Status-Test) 17/25 Punkte, Dem Tect: 7/18 Punkte, Uhrentest: 5 Punkte
  • UPDRS III (Unified Parkinson’s Disease Rating Scale – motorische Untersuchung): 66 Punkte
  • Barthel-Index: 30 Punkte
  • Hoehn-und-Yahr-Skala: Stadium 4

Untersuchung

Neurologischer Aufnahmebefund

  • Hyposmie, Dysarthrie, rechts- und armbetonter Rigor, eingeschränkte Fußhebung rechts, Beugekontraktur linkes Kniegelenk, Finger-tapping rechts amplitudengemindert, Feinmotorikstörung bds., Ruhetremor der Hände bds., leichte Linksbetonung
  • Gangbild stark verlangsamt, kleinschrittig, gebunden, unsicher, Kamptokormie, Mitschwingen der Arme insbesondere rechts stark eingeschränkt, Wendeschrittzahl > 10, postural instabil, Fremdhilfe bei Gehversuchen teilweise erforderlich
  • Reflexstatus seitengleich und mittellebhaft, peripher der unteren Extremitäten ASR und TPR erloschen, keine Pyramidenbahnzeichen
  • Sensibilität: Pallhypästhesie bimalleolär 4/8
  • Vegetativum: Obstipation, Überlaufblase, kein Hinweis auf REM-Schlaf-Verhaltensstörung, Ein- und Durchschlafstörungen, neuropsychologisch kein Hinweis auf Hirnwerkzeugstörungen


Psychischer Aufnahmebefund

  • Wacher und bewusstseinsklarer, complianter Patient, zeitlich und örtlich unvollständig orientiert, situativ und autopersonell gut orientiert, Auffassung und Konzentration erschwert, keine formalen oder inhaltlichen Denkstörungen, keine optischen oder akustischen Halluzinationen, keine Impulskontrollstörungen, psychomotorisch verlangsamt, Antriebsminderung, depressive Grundstimmung

Behandlung

  • Ein- und Umstellung von Levodopa 625 mg LT auf zunächst 600 mg plus 200 mg Depot zur Nacht und morgendlich einer LT-Gabe in Kombination mit Opicapon aufgrund von Fluktuationen und zu 60 % der Tageszeit nachweisbaren Off-Zeiten
  • Integration in die Parkinson-Komplexbehandlung mit hochfrequenten nicht-medikamentösen aktivierenden Therapieeinheiten
  • Trotz dieses Therapieregimes und Erhöhung der Levodopa-Dosen pro Einzelgaben auf insgesamt 750 mg/d ergaben sich keine Änderungen der Mobilität und Psychomotorik
  • Erneute Eskalationstherapie mittels Dreifachpumpe unter medikamentöser Dreifachkombination Levodopa/Carbidopa/Entacapon (LCE)
  • Probedosierung: 1 ml/h, Beibehaltung der oralen Medikation (ohne Opicapon, 3 Tage zuvor abgesetzt):
    • Besserung der Mobilität, der Schrittlänge sowie der Psychomotorik und Reduktion der Off-Phasen
  • Nach viertägiger Testphase PEJ komplikationslos installiert und die begonnene Dosierung des Gels fortgesetzt und schrittweise, bei einer Flussrate von 1,8 ml/h und Morgenbolus von 15 ml beginnend, um jeweils 0,1 ml/h alle 2–3 Tage erhöht
  • Parallele Reduktion der oralen Levodopa-Dosen um 50 % der Einzeldosen, nach 3 Tagen komplett bis auf das nächtliche Depot
  • Anpassung der Insulindosen:
    • Höherer Grundumsatz durch bessere Beweglichkeit und damit einhergehender Stimmungsaufhellung
  • Absetzen von Ramipril zur Kompensation hypotoner Blutdruckwerte
  • Dosisfindung LCE: Entsprechend den Dosisempfehlungen mit morgendlichem Maximum wurde eine Dosis von 18 ml des Dreifachgels aus LCE um 6 Uhr und eine Flussrate von 2,2 ml/h nach ca. dreiwöchigem Auftitrieren des Medikaments als optimale Dosis ermittelt:
    • Boli nach Bedarf: 2 ml bis zu 6x täglich
    • Pumpenlaufzeit: 6 bis 22 Uhr
  • Verzicht auf Levodopa-Tagesdosen bis auf Retardpräparat (Levodopa 100 mg) um 22 Uhr
  • Quetiapin 50 mg prolong wurde beibehalten, Quetiapin 25 mg war verzichtbar
  • Nach Selbsttraining, Schulung der Pflegekräfte im betreuten Wohnen und Aufklärung der ambulant behandelnden Neurologin konnte der Patient in seine Wohneinheit in gutem, stabilem Befinden entlassen werden

Behandlungserfolg

  • Erheblich verbesserte Lebensqualität
  • Deutliche Zunahme von Mobilisierung und Selbstständigkeit
  • Verbesserung von Psychomotorik, Sprachmodulation und depressiver Stimmungslage
  • Keine Stimmungsschwankungen oder psychotische Ereignisse
  • UPDRS-III-(Motorik)-Verbesserung von initial 66 auf nunmehr 43 Punkte
  • Barthel-Index-Steigerung auf 45 Punkte
  • Geriatrisches Assessment: Verbesserung im MMST von 17 auf 20 Punkte, im DemTect von 7 auf 9 Punkte
  • Reduktion der Off-Phasen nach gut vierwöchiger stationärer Behandlung auf max. 5 % der Tagesgesamtzeit, morgendlich vor der Bolusgabe
  • Das letzte Telefonat im Rahmen der Nachbeobachtung fand 9 Monate nach der Entlassung statt und bestätigte einen stabilen Befund des Patienten, eine gute Symptomkontrolle und eine problemlose ambulante Behandlung und Betreuung

Fazit

Sowohl die Erwartungen des Patienten als auch die Therapieoptionen waren zum Zeitpunkt der Aufnahme nach zwanzigjähriger Parkinsonanamnese begrenzt. Die stationäre Aufnahme erfolgte aufgrund erheblicher Fluktuationen, Off-Zeiten von bis zu 60 %, psychotischer Phänomene unter Dopaminagonisten, zunehmender Mobilitätseinschränkung und einer nicht längerfristig erfolgreichen Eskalationstherapie mittels Levodopa-Carbidopa-Pumpe. Die Probe- und Eindosierungsphase auf die Dreifachpumpe verlief komplikationslos. Der mögliche Verzicht auf fast die gesamte orale Parkinsonmedikation sowie der unmittelbare Therapieerfolg motivierten den Patienten umso mehr, sodass von einer weiterhin hohen Therapieadhärenz ausgegangen werden kann.

Hubert, 82 Jahre

Josef, 68 Jahre

Klaus, 42 Jahre